Heute habe ich einen Brief erhalten. Mit korrekter Adresse. Da prangen mein Wohnort und meine Straße nebst Hausnummer im Adressfenster. Aber darüber steht – auch wenn es auf den ersten Blick harmlos erscheinen mag – etwas geradezu Bedrohliches.

Anstelle meines Namens steht da: „An alle schlauen Immobilienbesitzer“.

Ich darf mich zur dieser absoluten Minderheit zählen. Zu den Immobilienbesitzern. Aber dass es die in zwei Kategorien gibt, das ist mir neu.
Nach Erhalt des Briefes bleiben mir nun zwei Möglichkeiten. Entweder ich fühle mich den „Schlau-Immobilienbesitzern“ zugehörig, dann sollte ich das Kuvert unverzüglich öffnen. Immerhin ist der Adressat in dieser Hinsicht sehr konkret. Oder ich bekenne mich als „unschlau“ – was auch immer sich hinter dem Adjektiv verbergen mag. Die Entscheidung liegt jetzt ganz bei mir.
Schlau zu sein wäre mir schon viel lieber. Ein Dilemma.

Mit welchem Recht schickt mir jemand so ein Problem ins Haus?

Ich verfüge über ein klein wenig Wissen. Weiß etwas über Wirtschaft, Kapital, Recht und Politik. Eben das, was den Menschen beigebracht wird, damit sie an Rechtsstaat, Demokratie und soziale Marktwirtschaft glauben, den Wunsch haben, ihren Besitzstand zu wahren und artig wählen gehen.

Manchmal tue ich aber etwas Ungehöriges. Ich denke einfach nach. Sofern eben Zeit zum Denken verfügbar ist. Zeit ist ja so unpräsent – seit die Zeitdiebe immer dreister werden.
Über vierzig Fernsehprogramme, Tageszeitungen, Prospekte, Wurfsendungen und auch solche seltsamen Briefchen. Unzählige Informationen unserer informativen Informationsgesellschaft. Die Zeit reicht ja gerade noch aus, um die Informationen grob zu sortieren oder auszusortieren. Wenn die Informationslieferanten nur wüssten, was ich alles nicht wissen will.
Ich mutmaße, das ist denen aber egal. Auf Befindlichkeiten von potenziellen Kunden können die keine Rücksicht nehmen. Darüber nachzudenken, weshalb mich gerade diese Informationen in gerade dieser Form erreichen, dafür ist selten Zeit.
Meine Immobilie – die übrigens gar nicht meine ist, weil sie zu ungleichen Teilen meiner Frau, mir und der Bank gehört – die ficht es nicht an, ob ihr Besitzer ein wenig schlauer oder unschlauer ist.

Ich drehe mir jetzt eine Zigarette und mache mir eine Tasse Kaffee. Setze mich auf den Balkon in die Abendsonne – und denke.

Da gibt es wohl ein paar schlaue Menschen. Ich nenne sie bewusst schlau und nicht klug oder weise. Diese Menschen generieren, unter sehr effektiver lobbyistischer Einflussnahme auf unsere Steuergesetzgebung, mit erschreckender Regelmäßigkeit neue Geschäftsmodelle. Die dann in einem Briefchen gipfeln, das nun einen Weg in mein Leben gefunden hat.
Drinnen liegt’s, in der Küche – unscheinbar, lästig und agitativ.
Wenn ich das Ding öffne und lese, dann hab ich – das sagt mir meine Erfahrung – ein echtes Problem. Für einen Moment werde ich mich schlau und gut informiert fühlen. Bestens vorbereitet für ein Beratungsgespräch und einen Abschluss, der künftig mein Girokonto belastet.
Während ich die leere Kaffeetasse zurück in die Küche befördere, um sie im Bauch der Spülmaschine verschwinden zu lassen, sinniere ich darüber nach, ob die absichtsreichen Briefschicker nicht eine positivere Handlungsmotivation hätten finden können, als mir latent mit akuter Unschlauheit zu drohen. Da schreit mich im Vorübergehen das Werbe-Prospekt eines Elektro-Discounters an: „Ich bin doch nicht blöd“.
„Nicht blöd“ – so steht es da in riesengroßen Lettern.
Für einen Moment stutze ich. Doch dann offenbart sich mir das Potential dieser Botschaft.
Das ist meine Rettung. Gedenk dieser wunderbaren End-Verbraucher-Information, befördere ich den Immobilienbesitzer-schlau-Brief erleichtert ins Altpapier. Er hat soeben seine Bedrohlichkeit verloren.
Morgen werde ich in der Mittagspause eine CD kaufen gehen.
Eine, die ich schon ganz lange haben wollte.
Und an der Kasse – also spätestens beim Bezahlen – da werde ich mich super gut fühlen – „unblöd“. Das ist dann allemal besser als „unschlau“. Und vermutlich kostengünstiger, als das Öffnen des Briefes und die Gegenleistung, die ich fürs Schlau-Sein hätte erbringen müssen.

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